Beerensommerjahre

 

Es stimmt nicht, was man mir einmal erzählt hat. Wirklich nicht. Meine Augen hätten ihr blau verloren, irgendwo auf dem Weg von gestern nach heute. Es stimmt nicht. Wenn jemand das weiß, dann doch nur ich. Nein, es wird nur übersehen. Nicht mehr wahrgenommen. Es ist nicht weg. Das war es nie.

 

Ich sitze am Küchentisch. Die Schürze ist dreckig, aber das stört mich nicht. Im Radio der Sender, der ausschließlich Oldies spielt. Die Fingerkuppen sind aufgequollen von der Nässe. Die Beeren werden nicht weniger.

 

Es gibt Dinge, die vergisst man nicht. Das habe ich nie vergessen. Ich sitze wieder hier. Hier. Nicht dort wo ich damals saß. Hier. Vor einer Schüssel Beeren mit aufgequollenen Händen und einer dreckigen Schürze.

Den Sender mit den Oldies gibt es immer noch. Ja, ich summe immer noch mit.

Vor mir die Beeren. Neben mir der Radio. In mir so unendlich viel Erinnerung und so wenig Erklärung, über das Blau in meinen Augen. Draußen die Nacht.

Wie damals. Damals, als es kein Gestern und kein Morgen gab. Nur den heutigen Abend, die Beeren und den Küchentisch. Wir hatten ein Foto davon gemacht. Einmal. Es war das einzig schöne später. Das einzige, was wir auf die schnelle finden konnten.

Wir dachten nicht an morgen und nicht an gestern. Ich dachte nicht daran und dich, dich habe ich nie gefragt. So stimmt es.

Irgendwann war die Schüssel leer. Und auch der Beereneimer. Dann wurde das Wasser ausgeschüttet, die Beeren verstaut, die Hände getrocknet, das Licht gelöscht und zu Bett gegangen. Niemand war traurig wenn die Schürze ausgezogen wurde. Ich war froh. Eigentlich immer. Es kam immer wieder ein Sommer mit einem gefüllten Beereneimer. Bis du eines Morgens nach einer schlaflosen Nacht wach liegst und weißt, dass du nie wieder in dieser Küche, an diesem Küchentisch sitzen wirst. Und wenn du das vorher wissen würdest, du würdest versuchen, nie die letzte Beere zu erreichen, damit diese Zeit nie zu Ende geht.

Damit dieser Küchentisch weiter da ist. Damit wir hier weiter sitzen können. Damit WIR weiter existieren.

 

Beerenherbst

 

Das Vergehen der Zeit tut nicht weh. Nur die Abschiede. Die, die einfach kommen, die du kommen siehst und die du trotzdem nicht aufhalten kannst. Manche sind ja nicht für immer. Irgendwo habe ich dann immer gehört, letztere wären nicht so schlimm. Natürlich nicht, das sagt man dann auch, während der Schmerz einen leise und unsichtbar umarmt. Ein jeder weiß es und keiner sagt es: Das Leben kann manchmal so entsetzlich wehtun.

Eines Tages waren es auch die letzten Beeren, die letzte Schüssel. Nur, das wusste ich vorher nicht. Mir ist nie aufgefallen, wie schön der Tisch war, an dem wir saßen. Daran denke ich erst jetzt. Daran dachte ich, damals, mitten in der Nacht. Und am nächsten Morgen wollte ich nach Hause. Genauso habe ich es gemeint. Nach Hause an den Küchentisch. Doch dieser stand schon längst bei mir und war nur unvollständiger Bestandteil einer Sache, die nicht mehr existiert.

Was einst mein Zuhause war, kann ich niemandem sagen. Das heißt, sagen kann ich es schon, doch keiner weiß, wovon ich rede. Denn es kennt niemand meine Heimat. Niemand den Ort, den ich verlassen habe. Keiner kennt unsere Küche, weiß die Gespräche, die wir beide führten, kannte unsere Leichtigkeit. Warum habe ich dich eigentlich nie gefragt, ob du auch Fragen ohne Antworten hattest? Ich hab so viele, oder? Hab ich keine? Will ich die Antwort nicht wahrhaben, weil ich weiß, dass ich sie nicht ertrage? Du hast mir so viel erzählt. Warum hast du DAVON nie gesprochen? Wir haben Beeren gewaschen. Wir haben gebacken. Wir haben gekocht. Wir haben im Garten Gemüse angebaut. Wir haben gestrickt, gehäkelt, genäht. Wir trugen alte, abgewetzte Kleider. Alles andere wäre zu schade gewesen für diese Art von Arbeit. Ich erinnere mich noch genau an meine geflickte Latzhose. Wir hatten unsere Krisen und unseren Trost.

Ich habe heiße Erdbeermarmelade über meine Hand geschüttelt, beim Pflaumenpflücken in Wespen gefasst, die Bronzeskulptur auf die Zehen fallen lassen, bin beim Kartoffelernten vom Beet rückwärts auf den Steinboden und beim Spielen in Nachbars Teich gefallen. Damals bin ich dazu gekommen als... oh je nein, habe ich gedacht.

Nie vergesse ich, welche Angst ich um dich hatte.

Aber es war unser Leben.

Und ich, ich war glücklich. Und dir, dir war genug was ich war und wie ich war.

Du nahmst mich, als die, die ich war. Ein Mädchen mit tief dunkelblauen Augen ohne Sehsucht, ohne Neugier nach einem anderen Leben. Du hast mich so geliebt. Deshalb war ich für dich etwas Besonderes und nicht wie für jeden anderen nur gewöhnlich. Deshalb hast du allen von meinen tiefblauen Augen erzählt.

Oder?

Die Zeit vermischt Erinnerungen, Worte und Bilder. Was man mir gesagt hat, passt nicht zu meiner Erinnerung. Es ist menschlich Schwächen zu haben.

Ich versuche damit zu leben. Und nicht aufzugeben. Und nie zu vergessen, was du mir gelehrt hast… an unserem Küchentisch.

 

Ich sitze am meinem Küchentisch. Die Schürze ist dreckig, aber das stört mich nicht. Im Radio der Sender, der ausschließlich Oldies spielt. Die Fingerkuppen sind aufgequollen von der Nässe. Die Beeren werden nicht weniger.

 

Meine Augen waren tiefblau. Nicht gewöhnlich blau. Dunkel und unergründlich.

Das sind sie immer noch. Wie kann man das nur übersehen?