Eine Geschichte vom Stoff der Ewigkeit

Im November und im Februar war es immer am schönsten, über den Stoff der Ewigkeit nachzudenken. Während der Weihnachtszeit war es einfach zu bunt.
Da sind die Erinnerungen an den kristallklaren Himmel, an die beißende Kälte und an die Lichtkegel der Fenster. Lief man unmittelbar daran vorbei, konnte man drinnen manchmal etwas erkennen. Mir gefiel es, für einen kurzen Moment stummer Zeuge einer Handlung zu werden. Um dann mit einer kleinen Geschichte wieder in diese so wunderbare Einsamkeit des Morgens oder Abends entlassen zu werden.
Manche Menschen gehen einfach schnellen Schrittes in die Stadt, ohne Blick nach links oder rechts. Sei es, weil die Pflicht ruft, oder weil sie so früh am morgen einfach zu müde dafür sind, oder beides.
Doch gerade in diesen Stunden konnte man so vieles erleben, ja, das Leben erleben. Einmal knirschte der Schnee unter meinen Schuhen, und es war zu hören, wie die Autos Mühe hatten voranzukommen. Ein andermal war es das regennasse Laub, das in seiner Eigenheit raschelte. - Wie gesagt
war", aber dazu später. -

Fünfmal die Woche ging ich in die Stadt, immer denselben Weg, immer dieselbe Zeit, immer dasselbe Ziel. Etwas unterhalb dieses Weges befindet sich ein Neubaugebiet. Von meiner Perspektive aus gesehen, reihte sich Dach an Dach. Ich musste oft daran denken, wie viele Geheimnisse und Erfahrungen unter diesen Dächern verborgen sind. Hier wohnen so viele Menschen.
Noch am chaotischen Haus der Großfamilie vorbei, wo man meinen konnte, die Wand sei mit Zetteln tapeziert, dann sah man über die halbe Stadt. Hier konnte man ein Stück vom Stoff der Ewigkeit spüren. Dieser hat die Farben des kristallklaren Himmels, die hellen gelblichen Farben der Lichter und Laternen und die rußgrauen Elemente des Schonsteinrauches.
Irgendwann habe ich dem Dunst, der im Winter morgens und abends über den Dächern der Stadt liegt, genau diesen Namen gegeben. Ich stelle mir vor, dass hier die Geschichten der Stadtbewohner eingewoben sind.
Die Farben sind wie im Leben. Hier gibt es auch kristallklare, helle und rußgraue Bestandteile. Jeden Tag werden in den Stoff der Ewigkeit neue Mosaikstücke eingewoben. Sie bestehen aus den Rohstoffen Glück, Leid, Hoffnung, Wärme, Kälte, Lachen, Weinen, Liebe, Träume, Schicksal, ach - die Liste ließe sich ewig fortsetzen.
Jeden Tag begegnen wir so vielen Menschen, manche kreuzen unsere Wege, manche stellen sich uns in den Weg, manche sind nur für einen kurzen Moment da und manche verschwinden einfach still und leise, ohne ein Wort zu sagen. Manche vermissen wir sehr, andere eher nicht. Wer an derselben Stelle, an der ich immer stand, am Abend vorbeikommt und einige Momente verweilt, kann dem Treiben der Hauptstraße zusehen und bemerken, wie es allmählich still wird. Die Fahrer all dieser Autos auf der Hauptstraße bringen die über den Tag erlebten Ereignisse mit nach Hause. In den Häusern gehen die Lichter an, in manchen die Jalousien runter. Hier und da sah man hinein. - Mir gefiel dieser Weg so sehr.
Eines Tages änderten sich die Zeiten, und ich kehrte nicht mehr oft auf meinen so geliebten Weg zurück. Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge, heißt es doch immer.
Aber an manchen Abenden packt mich immer noch die Sehnsucht, und ich laufe durch die dunklen Gassen. Der Nebel, der über der Stadt liegt, taucht alles in ein so eigenartiges Bild. All unsere Geschichten sind in den Stoff der Ewigkeit eingewoben, die guten wie die schlechten, auch meine.
Und wer auch immer diese Fäden sponn, entschied wohl eines Tages, dass ich diesen Ort nur noch selten sehen werde. Was gäbe ich darum, diese Zeit noch einmal zu erleben.

 

 

 

 

Blütezeit

 

Anouk mochte genau dieses Wetter. Es war heiß, aber bedeckt. Häufig war es so gewesen, wenn sie hier unterwegs war. Irgendwo in Norditalien. Die Straße wurde von diesen hier so typischen, knöchrigen, stark zurück geschnittenen Bäumen umgeben. Jedes Mal war es ihr ein Rätsel, wie diese mit so wenigen Blättern überleben konnten. Wie oft war sie sehnsüchtig diese Straße gefahren. Es war so lange her, so viel war passiert. Manchmal dachte sie an diese Zeit. Dann sah sie das Licht in diesen Straßen, die Eigenheiten der alten Häuser und das saftige Grün der Weinberge inmitten der trockenen Felder wieder ganz lebendig. Es war, als würde sie ihre Erinnerungen dann bewohnen. Diese Zeiten waren längst vorbei. Sie wollte heute ganz wo anders hin. Sie war ganz anders! Warum hatte sie nur die 53er-Schnellstraße anstatt der Autobahn gewählt? Die Klimaanlage des Autos kühlte nur mäßig, sodass sie ein Fenster öffnete. Als sie durch den nächsten Ort fuhr, füllte sich das Auto mit dem starken, schweren Geruch von Jasminhecke. „Gleich ist es so weit", dachte sie nervös. Was sie so lange erfolgreich erstickt und verdrängt hatte, drang nun in ihrer früher so stürmischen Natur wieder durch. In der Ferne sah sie den altbekannten, rostigen Wegweiser, und ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. Sie musste es einfach tun. Egal, welche Konsequenzen es hatte. Egal, was der ach so wichtige Geschäftspartner nun von ihr denken würde. Sie musste es tun. Sie bog ab, parkte am Straßenrand und lief los, ins freie Feld. Donnergrollen in der Ferne und erste Regentropfen bedeuteten nichts Gutes. Aber sie musste es jetzt herausfinden, einfach um es zu wissen. Ihr erstes Ziel waren die verlassenen Häuser. Einen Moment hielt sie inne und sah durch die stets kaputten Fenster hinein. Es waren immer noch Möbel zu erkennen. Dazwischen wucherten Ackerweide und Efeu. Zufrieden setzte sie sich auf die Stufe, die ins Haus führte. Die Faszination, welche dieser Anblick auf sie hatte, war immer noch da. Es erschien ihr so, als wäre sie nie fort gewesen. Früher hatte sie sich oft gefragt, warum diese Häuser samt Einrichtung verlassen waren. Sie hatte sich so für dieses Geheimnis begeistern können. Wie sie sich für so vieles begeistern konnte. Und in einem dieser Häuser waren auch jene geheimnisvollen Schicksalsfäden unverkennbar in ihr Leben eingewoben worden. Warum war sie nur so verdammt ehrgeizig gewesen? Sie wurde sogar noch gewarnt! Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, anders zu sein? Es regnete immer stärker. Dunkle Wolken ließen das Licht noch schöner werden.

Anouk gefiel es, aber sie spürte auch den Schmerz. Ihr enger, ungeliebte Ordnung ausstrahlender Hosenanzug war durchnässt, als sie weiter bis zum Anbau lief. Dort sah sie ein seltsames Bild: In einer Art Scheune war alles mit blauen Blumen überwuchert. Mitten im Raum lag eine alte Schubkarre. Einen Moment hielt sie inne und nickte stumm. Dieser Anblick hatte so viel Wahrheit. Blumen und Schubkarre. Warum hatte sie zugelassen, dass der Spaten der gesellschaftlichen Meinung ihren Ideengarten komplett umgegraben hatte? Warum hatte sie zugelassen, dass darauf eine kalte, anthrazitfarbene Betonfassade errichtet wurde? Standardmäßig nach dem Motto „Praktisch, pragmatisch, produktorientiert". Warum hatte sie sich nicht mehr um ihre blauen Blumen bemüht? Warum hatte sie ihre Blütezeit verschenkt? Warum hatte sie nie gewagt, ANDERS zu sein? Sie SELBST! All diese Fragen stellte sie sich insgeheim schon lange. Sie hatte nur noch nie so sehr daran gedacht. Und insgeheim die Antwort. Es war eine andere Frage, die sie dazu brachte. Es war die Sehnsucht. Nämlich genau diese Sehnsucht, ihrem nahen und fernen Umfeld eine „normale" Antwort über ihr Leben präsentieren zu können. Das Gerede der Leute hatte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Die anmaßenden Blicke, wo immer sie auftauchte. Aber ihr eigenes „Warum", hier an Ort und Stelle, war noch um einiges schlimmer. Vorsichtig lief sie weiter in Richtung Ort. Entlang der Ausfahrtstraße hatte sich vieles verändert. Dort, wo früher nur verlassene alte Häuser waren, standen jetzt reihenweise, auf eine bestimmte Art vornehm anmutende, eingezäunte Häuser mit Vorgärten. Irgendwie musste sie an ein Sprichwort denken, von dem sie nie wusste, woher sie es kannte. Leise murmelte sie vor sich hin: „Hoffnungen und Ideen müssen manchmal sterben, wie Blumen im Winter, aber die Wurzeln tief in der Erde überleben den Winter, bis zum Frühjahr". Hatten solche Sätze wirklich einen Sinn? Zurückzukehren und weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, erschien ihr absolut absurd. Aber war sie nicht aus diesem Grund hier, um einen Weg zu finden? Ihre Hände waren ganz zittrig, als sie vor einem Gartentor stehen blieb. Während sie alle möglichen Zweifel in Erwägung zog, bemerkte sie nicht, wie sich in dem Haus vor dem sie stand, langsam ein Fenster öffnete. Eine ihr bekannte Stimme rief ihren Namen. Erstaunt blickte sie nach oben. Er war da.